Dezember 4, 2024

Larissa Kapitel 1

Kapitel 1

Wie kann es eigentlich sein, dass der Mensch auf dem Mond landen und Smartphones, Tablets und Smartwatches erfinden konnte, aber immer noch glaubt, dass es eine gute Idee ist, Teenagern gleich zu Beginn des Schultages eine Doppelstunde Mathe in den Stundenplan zu schreiben? Bei mir ist es immer so: Am Anfang der ersten Stunde komme ich ganz gut klar und denke manchmal sogar, dass es diesmal gar nicht so schlimm wird. So die ersten zehn Minuten kann ich mich auch gut konzentrieren und lerne sogar etwas. Aber dann kommt jedes Mal die Müdigkeit zurück und ich kämpfe nur noch gegen den Schlaf an. Aufpassen kann ich vergessen. Jetzt zum Beispiel. Gerade hat Herr Zimmermann noch die Potenzregeln wiederholt und ich konnte die Aufgaben von der Tafel problemlos lösen. Aber von dem Vortrag, den er jetzt hält, bekomme ich kaum noch etwas mit. Um nicht einzuschlafen, habe ich mir die Sandaletten abgestreift und reibe meine bloßen Fußsohlen am kratzigen Teppichboden. Gleichzeitig pikse ich mir mit dem Bleistift in die Haut zwischen Zeigefinger und Daumen, sodass es ein bisschen wehtut und kaue heimlich Kaugummi. Dadurch werde ich zwar nicht wacher, aber zumindest schlafe ich nicht ein. Das passiert mir leider immer wieder. Dann schreibt mir der Lehrer oder die Lehrerin, bei der ich eingeschlafen bin, etwas ins Mitteilungsheft und meine Mum muss das unterschreiben. Zur Strafe muss ich dann an dem Tag um 18 Uhr im Schlafanzug sein, um 19 Uhr in mein Zimmer gehen und um 20 Uhr macht sie mein Licht aus. Das ist unglaublich peinlich, weil ich schon vierzehn bin und sogar die Kinder aus unserer Straße dann noch draußen spielen dürfen. Es hilft auch nicht wirklich. Mein Handy muss ich eh immer um sieben Uhr abgeben und meistens schlafe ich so um neun/halb zehn ein, aber am Morgen schaffe ich es trotzdem kaum aus dem Bett. Wenn ich nicht müsste, würde ich wohl nie vor zehn Uhr aufstehen…

„Larissa, ich glaub’s ja nicht! Nimm sofort das Kaugummi raus. Am Unterricht beteiligst du dich ja auch nicht. Wenn du morgens so müde bist, geh gefälligst früher ins Bett“. Herr Zimmermann schreibt meinen Namen an die Tafel. Das bedeutet, dass ich eine Verwarnung habe und beim nächsten Regelverstoß in den Trainingsraum muss. Ich nehme das Kaugummi raus und werfe es in den Müll. Diego und Steffen, die hinter mir sitzen, kichern. Ich kann die beiden nicht leiden. Sie sind total die dummen Machos und halten sich selbst für unglaublich cool. Dabei sind sie in meinen Augen kleine Kinder in viel zu großen Körpern. Ich ärgere mich, dass Herr Zimmermann sie nicht gehört hat und auch an die Tafel schreibt. Aber bei uns wissen alle, dass Herr Zimmermann einfach nur unfair ist. Er ist mit uns Mädels nämlich viel strenger als mit den Jungs. Uns schreit er wegen jeder Kleinigkeit an oder schickt uns in den Trainingsraum. Bei den Jungs wird er zwar auch manchmal laut, aber nur wenn es so offensichtlich ist, dass er nicht so tun kann, als hätte er nichts mitbekommen. Wir bilden uns das auch nicht ein. Sogar Herr Jürgens, einer der Trainingsraumlehrer, sagt, dass Herr Zimmermann der einzige Lehrer ist, der mehr Mädels als Jungs in den Trainingsraum schickt. Letztes Jahr hatten wir einmal bei ihm Vertretung in Deutsch. Weil er von dem Fach keine Ahnung hat, sollten wir in der Stunde unsere Hausaufgaben machen. Nina, das bravste Mädchen der Klasse, wenn nicht sogar der ganzen Schule, hat zu ihrer Nachbarin gesagt, dass die Hausaufgaben viel zu viel sind und sie nicht weiß, wie sie das schaffen soll. Herr Zimmermann hat das leider gehört, ist zu ihr gekommen, hat mit der Hand auf ihren Tisch geschlagen und sie angebrüllt, dass wir es viel zu guthätten und uns nicht beschweren dürften. Es gäbe viele Jugendliche, die froh wären, zur Schule gehen und lernen zu dürfen. Nina hat angefangen zu weinen und er hat sie noch gezwungen, nach vorne zu kommen und sich an die Tafel zu stellen, sodass ihr alle beim Weinen zugesehen haben. Diego und Steffen haben die ganze Zeit gekichert und sie wochenlang bei jeder Gelegenheit nachgeäfft, bis unser Klassenlehrer Herr Yilmaz das mitbekommen hat. Die beiden mussten mit ihm allein zu einem Gespräch in die Klasse gehen. Danach haben sie sich bei Nina entschuldigt und sie in Ruhe gelassen. Herr Yilmaz ist auch streng, aber gerecht und vor ihm haben alle Respekt, weil er ein korrekter Mensch ist. Bei ihm muss auch nur ganz selten jemand in den Trainingsraum. Wenn er eine Ansage macht, sind danach alle still und machen, was er sagt. Trotzdem mögen wir ihn.

„Larissa, komm an die Tafel!“ werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Wie ich das hasse… Ich gehe nach vorne. Natürlich weiß ich nicht, wie ich die Aufgabe lösen soll. „Äh, keine Ahnung, tut mir leid“ entschuldige ich mich. Herr Zimmermann wird rot im Gesicht und fährt mich an „siehst du? das kommt davon, wenn man die ganze Nacht am Handy ist! Für die Stunde bekommst du jedenfalls eine Fünf, aber das interessiert dich ja nicht!“ Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass er keine Ahnung hat und mein Leben ihn nichts angeht. Ernsthaft? Die ganze Nacht am Handy? Ich darf mein Handy nach der Schule genau zwei Stunden haben. Eine Stunde, wenn ich nach Hause komme und Stunde am Abend. Um 19 Uhr muss ich es wieder abgeben. Aber ich habe schon eine Verwarnung und ich bin mir sicher, dass er nur auf einen Grund wartet, mich in den Trainingsraum zu schicken. Naja, eigentlich wäre ich jetzt eh lieber dort, als mich weiter vor der ganzen Klasse schikanieren zu lassen, aber wenn ich jetzt gehe, komme ich spätestens am Anfang der zweiten Stunde zurück und selbst wenn Herr Zimmermann mich danach in Ruhe lässt, geht es in der nächsten Stunde wieder von vorne los. Außerdem muss ich aufpassen, weil man nach dreimal Trainingsraum einen Brief an die Eltern bekommt und das bedeutet bei mir Hausarrest. Wortlos gehe ich an meinen Platz zurück. Steffen zeigt mir mit seiner Hand ein L auf der Stirn. Loser. Ich zeige ihm den Mittelfinger. „Herr Zimmermann, Larissa zeigt mir den Mittelfinger! „. „Ruhe! Du hast dich nicht gemeldet!“, brüllt Herr Zimmermann und schreibt Steffen an die Tafel. „Larissa, du gehst jetzt in den Trainingsraum“. Steffen grinst zufrieden, während ich wütend nach vorne gehe, um mir den Trainingsraumzettel abzuholen. „Dein Benehmen ist einfach nur kindisch. Du bist doch nicht mehr im Kindergarten. Wenn ich mich als Schüler so respektlos gewesen wäre, hätte mein Vater mich ordentlich übers Knie gelegt“. So ein mieser Sack! Keiner meiner Freunde hat so strenge Eltern wie ich und früher habe ich auch Schläge bekommen. Meine Eltern haben zwar nie wirklich fest zugeschlagen, aber es war mir immer unfassbar peinlich, vor allem wenn es Andere mitbekommen haben. Nur weil ich das Herrn Yilmaz erzählt habe und der meinen Eltern klargemacht hat, dass er sie eigentlich anzeigen müsste und das sofort tun würde, wenn er das noch einmal mitbekommt, haben sie damit aufgehört und diese ganzen Strafen eingeführt: In der Ecke stehen, in der Ecke knien, Sätze schreiben, Hausarrest, Einsperren im Zimmer. Natürlich ist das alles tausendmal besser, als Schläge zu bekommen, aber ein Großteil meiner Freundinnen hatten in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal Hausarrest, obwohl ich braver bin als die meisten von ihnen. Sie dürfen auch alle abends länger draußen bleiben und die ganze Zeit ihr Handy haben, bis auf Miriam und selbst sie muss es am Wochenende nicht abgeben. Ich bin so wütend. Am liebsten würde ich Herrn Zimmermann beschimpfen. Gleichzeitig schäme ich mich, weil er mich vor der ganzen Klasse erniedrigt hat. Ich schnappe mir den Zettel und schlage beim Rausgehen die Tür zu. Auf dem Flur kommen mir die Tränen und ich überlege, ob ich noch aufs Klo gehen soll, um mich auszuweinen, aber auf dem Zettel steht immer die genaue Uhrzeit, wann man aus der Klasse geschickt wurde. Manche Trainingsraumlehrer sind richtig streng und wenn man auf dem Weg getrödelt hat, gibt es eine Mitteilung an die Eltern und das will ich vermeiden. Der Trainingsraum befindet sich in einem Gebäude am anderen Ende des Schulgeländes. Meine Schule ist übrigens ein Gymnasium an einer kooperativen Gesamtschule. Das heißt, es gibt bei uns eine Haupt-, eine Realschule und ein Gymnasium, aber wir teilen uns einige Räume wie die Sporthallen, die Chemie-Bio-Physik- und Technikräume, die Mensa und eben auch den Trainingsraum im fünften Stock des Hauptgebäudes bei den Kunst- und Musikräumen, wo einen die Lehrerinnen und Lehrer hinschicken, wenn man gestört hat oder frech war. Es gibt zwar einen Lift, aber den dürfen nur die Lehrerinnen und Lehrer benutzen und Schülerinnen und Schüler, die im Rollstuhl sitzen, oder gerade ein Gipsbein haben. Das einzig Gute an dem langen Weg ist, dass ich mich wieder beruhigt habe, als ich den Trainingsraum erreiche. An der Tür hängt ein Zettel: „Bitte warten. Bin gleich zurück“. Das ist ein gutes Zeichen. Ich bin leider Stammgast im Trainingsraum und kenne alle Trainingsraumlehrerinnen und Lehrer. Die Strengsten sind Frau Sörensen, Herr Peters und meine Klassenlehrerin Frau Stevens. Die drei verlassen aber nie den Trainingsraum, wenn sie Aufsicht haben. Es bleiben noch mein Lieblingslehrer, Herr Jürgens, und Frau Mirkovic. Beide sind total entspannt und lassen einen erstmal chillen, während man bei den anderen sofort arbeiten muss. Die beiden interessieren sich auch für die Schülerinnen und Schüler. Frau Mirkovic ist für manche eine Art Ersatzmutter, mit der man über alles reden kann. Manchmal übertreibt sie aber auch und man fühlt sich ausgequetscht. Herr Jürgens ist so etwas wie der liebe Opi, obwohl er noch nicht einmal 50 ist. Er stellt  weniger Fragen als Frau Mirkovic, kann aber unglaublich gut zuhören und merkt sich auch alles, was man ihm einmal erzählt. Ihm würde ich wirklich alles anvertrauen, obwohl ich bis jetzt noch keinen Unterricht bei ihm hatte und ihn nur aus dem Trainingsraum kenne. Ach ja, ich schweife mal wieder ab. Sorry, das ist leider typisch für mich. Wo war ich? Ach ja, das Schild. Also wenn das Schild an der Tür hängt, bedeutet das, dass entweder Herr Jürgens oder Frau Mirkovic Aufsicht haben. Meine Laune wird gleich etwas besser. Ich setze mich entspannt auf den Boden, lehne mich an die Wand neben der Tür und bin gespannt, ob Frau Mirkovic oder Herr Jürgens kommen wird. Beides wäre voll okay, aber Herr Jürgens wäre mir noch ein bisschen lieber. Ihm würde ich auch sagen, dass ich es total unfair finde, dass ich in den Trainingsraum musste und Steffen nicht, auch wenn er an der Situation nichts ändern kann, aber zumindest könnte ich mal mit einem Erwachsenen reden, ohne bestraft zu werden.

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