Zufrieden betrete ich zehn Minuten vor dem Ende der zweiten Stunde die Klasse und gehe vorschriftsmäßig leise zum Lehrerpult und lege Herrn Zimmermann mein Arbeitsblatt auf das Pult. Ich muss daneben stehenbleiben und warten, ob er es annimmt. Aber Herr Zimmermann lässt sich Zeit und trägt noch irgendetwas in eine Liste ein, bevor er sich meinen Aufsatz vornimmt. Ich hoffe, dass ich die Entschuldigung jetzt endlich hinter mich bringen kann und mich setzen darf. Aber Herr Zimmermann nimmt seinen Stift und schreibt eine Anmerkung. Das bedeutet nichts Gutes. Er holt einen weiteren Trainingsraumzettel aus der Schublade und füllt ihn aus. „Jetzt bleibst du hier und setzt dich still an deinen Platz. Ich will nichts von dir hören. Morgen gehst du gleich in den Trainingsraum und verbesserst das, was ich eingetragen habe. Aber kein langes Trödeln. Für die Verbesserung brauchst du höchstens fünf Minuten. Das heißt, du bist spätestens nach einer Viertelstunde wieder da“. Genervt kehre ich an meinen Platz zurück und ignoriere Steffen, der mir wieder das Loser Zeichen zeigt. Ich habe keine Lust, mir den Blödsinn, den Herr Zimmermann geschrieben hat, jetzt anzusehen. Ich lege die Zettel auf den Schreibtisch und starre bis zum Klingeln aus dem Fenster. Draußen scheint die Sonne und es ist richtig schön warm, aber ich sitze hier in der Schule fest und bekomme später noch Hausarrest. Hoffentlich darf ich zumindest noch mit den Hunden raus. Endlich ist die Stunde vorbei.
Jetzt habe ich eine Viertelstunde Pause und dann Doppelstunde Sport. Diese Aussicht heitert mich gleich wieder auf, weil Sport mein absolutes Lieblingsfach ist und wir uns auf das Brennballturnier vorbereiten. Deshalb schnappe ich mir gleich meinen Turnbeutel und mein Pausenbrot und setze mich auf die Stufen vor unserem Gebäude, wo ich mich mit Carina, Merle und Steffi treffe. Die Mädels warten schon auf mich und versuchen gleich, mich aufzumuntern. Sie finden es auch total grässlich, wie Herr Zimmermann mich behandelt hat und bieten mir an, dass wir gemeinsam zu Herrn Yilmaz oder Frau Stevens gehen. Oder gleich zu Frau Richter, der Direktorin. Aber das lehne ich dankend ebenso ab wie Carinas Vorschlag, Herrn Zimmermann zu vermöbeln oder einen Pe**s auf sein Auto zu malen. Steffi fasst für mich zusammen, worüber sich die anderen seit gestern Abend unterhalten haben, da ich ja nichts mehr mitbekommen habe, nachdem ich um sieben Uhr das Handy abgegeben habe. Am Wochenende wollen wir einen Film- oder Serienabend mit Übernachtung bei Merle machen und ich hoffe, dass meine Eltern das erlauben. Heute muss ich sie aber gar nicht erst fragen, da ich ihnen ja auch den Trainingsraumzettel zeigen muss.
Die Sportstunde ist super. Ich bin mit Abstand die Schnellste in unserer Klasse und hole für unsere Gruppe die meisten Punkte. Sport ist sowieso mein Lieblingsfach. Anschließend haben wir die zweite Pause, danach Klassenrat und Englisch. Beim Klassenrat erzählen die Klassensprecherin Melanie und der Klassensprecher Ahmed irgendetwas Langweiliges von der Schulkonferenz und Frau Stevens geht mit uns die nächsten Termine durch. Ich kritzle aber nur etwas in meinen Block und höre nicht zu, weil ich mich eh nicht konzentrieren kann. Die Englischstunde vergeht anschließend auch ziemlich schnell. Allerdings bekomm ich wieder eine Trainingsraumverwarnung, weil ich mit Steffi quatsche. Frau Stevens ist zwar streng, aber auch fair und hält sich auch selbst an die Regeln. Eigentlich muss der Lehrer oder die Lehrerin einen bei der ersten Störung ermahnen und beim zweiten Stören die Frage stellen, ob man weiter am Unterricht teilnehmen, oder in den Trainingsraum gehen möchte. Wenn man sich dafür entscheidet, in der Klasse zu bleiben, hat man eine Verwarnung und wird bei der nächsten Störung direkt in den Trainingsraum geschickt. Oder man entscheidet sich gleich für den Trainingsraum. Zweimal an einem Tag in den Trainingsraum zu müssen, ist richtig schlimm, weil dann direkt die Eltern informiert werden und einen abholen müssen. Wenn sie nicht kommen können, wird man vom Unterricht ausgeschlossen, bis die Eltern zu einem Gespräch an der Schule waren. Das ist mir bis jetzt zweimal passiert und hat mir beide Male gleich eine ganze Woche Hausarrest eingebracht. Deshalb bin ich lieber still und auch Frau Stevens bleibt freundlich und provoziert mich nicht, wie es Herr Zimmermann gemacht hat. Stattdessen bekomme ich noch eine kleine Genugtuung, weil Steffen und Diego in den Trainingsraum müssen, nachdem sie „Pe**s!“ gespielt haben, also dieses Spiel, bei dem der eine leise äh, naja. Du weißt schon was sagt und der andere dann etwas lauter, bis einer erwischt wird. Auch bei ihnen ist Frau Stevens streng und bestimmt, aber absolut höflich und korrekt. Fast alle anderen Lehrerinnen und Lehrer „vergessen“ bei so etwas die Verwarnung und schicken den, der erwischt wird, direkt in den Trainingsraum, aber nicht Frau Stevens. Steffen und Diego bekommen erst eine Verwarnung und dann die Trainingsraumzettel. Nach der sechsten Stunde haben wir eine ganze Stunde Pause, bevor am Nachmittag noch zwei Stunden Kunst warten. Den Schülerinnen und Schülern ist es verboten, in dieser Zeit das Schulgelände zu verlassen. Wir dürfen nicht einmal in den Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dabei ist es so langweilig, die Mittagspause in der Schule zu verbringen. Ich gehe zwar manchmal mit meinen Freundinnen und Freunden zum Mittagessen in die Mensa, aber danach ist immer noch eine halbe Stunde Pause. Carina und ich beschließen, uns mal wieder vom Schulgelände zu schleichen und auf den Spielplatz zu gehen, zu dem man über einen kleinen Pfad hinter dem Supermarkt kommt. Für die Spielgeräte sind wir eigentlich zu alt, aber zumindest erinnert einen hier nicht alles daran, dass man noch in der Schule ist. Wir setzen uns auf die Schaukeln und weil gerade keine Kinder oder Eltern da sind, zündet Carina sich eine Zigarette an. Ich selbst finde den Gestank von Zigaretten einfach nur ekelhaft und verstehe nicht, warum Leute sich so etwas freiwillig antun. Deshalb lege ich mich ein paar Meter weiter ins Gras und ziehe mein Shirt etwas hoch, um noch ein bisschen Sonne auf den Bauch zu bekommen. „Sorry. Ich habe ganz vergessen, dass du gegen den Rauch allergisch bist“. Natürlich bin ich nicht allergisch, sondern ekel mich einfach davor, aber das sage ich nicht und nicke nur. „Kann ich nach der Schule vielleicht mit zu dir kommen? Du gehst doch noch mit Hunter und Wolf spazieren?“ Hunter und Wolf sind unsere Huskys. „Geht leider nicht. Ich habe einen Trainingsraumbrief bekommen, also kriege ich heute Hausarrest“. Mit dem Gassigehen ist es so: Huskys brauchen viel Auslauf. Meine Mum geht immer morgens eine größere Runde. Nachmittags sollen meine Schwester Svenja und ich, oder zumindest eine von uns, mindestens eine halbe Stunde gehen und abends nimmt Dad sie beim Radfahren für eine richtig große Runde mit, wenn er nicht gerade arbeiten muss. Er ist nämlich Sanitäter und arbeitet im Schichtdienst. Wenn ich Hausarrest habe, darf ich eigentlich auch nicht mit den Hunden raus, aber wenn Svenja sich mit Freundinnen trifft oder beim Turnen ist, soll ich es trotzdem machen, weil die Hunde den Auslauf brauchen. Das bedeutet aber, dass ich an einem langen Schultag wie heute erst um 16:00 Uhr zuhause bin, den Geschirrspüler aus- und einräumen und die Küche und das Wohnzimmer saugen soll und anschließend mit den Hunden eine halbe Stunde Gassi gehe. Danach ist es mindestens 17:30 Uhr. Um 18:00 Uhr gibt es schon Abendessen und danach darf ich unter der Woche eh nicht mehr raus. Wenn ich Hausarrest habe, ist an langen Tagen das Gassigehen fast der einzige Unterschied. Ich muss halt auch das Handy gleich abgeben, beim Abendessen schon im Schlafanzug sein und eine Stunde früher in mein Zimmer gehen, während die anderen noch bis 20:00 Uhr fernsehen. Das mit dem Handy ist das Einzige, was mich dabei wirklich stört. Deshalb bringt der Hausarrest eigentlich nur etwas, wenn ich auch nicht Gassigehen darf. „Ach, Schade“ setzt Carina unser Gespräch fort. „Echt blöd, dass du so strenge Eltern hast. Die übertreiben es echt“. Irgendwie klingt Carina richtig traurig und ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. „Naja, irgendwie verstehe ich sie schon. Weißt du, wie oft ich in den Trainingsraum muss? Ich habe heute erfahren, dass ich schon 77-mal da war. Wenn meine Eltern mir keinen Hausarrest geben würden, wäre ich wahrscheinlich jeden Tag im Trainingsraum. Außerdem komme ich dauernd zu spät und vergesse meine Hausaufgaben und meine Schulsachen. Früher musste ich fast jede Woche Nachsitzen, aber das weißt du ja eh. Damals habe ich mich so daran gewöhnt, dass es mir egal war“. Natürlich weiß Carina das alles. Beim Nachsitzen war sie meistens dabei und wir waren oft zusammen im Trainingsraum, bis sie letztes Jahr so ruhig geworden ist. „Naja, mit den Trainingsraumbesuchen musst du jetzt ja eh besser aufpassen“. „Wieso?“ „Hast du beim Klassenrat nicht zugehört? Es gibt jetzt neue Regeln. Nach dreimal Trainingsraum bekommt man immer noch den Brief. Aber nach zwei Briefen in einem Halbjahr müssen die Eltern zu einem Gespräch mit den Klassenlehrern kommen. Wer danach noch einmal muss, geht einen ganzen Tag in den Trainingsraum und wenn man in dem Halbjahr dann noch dreimal fliegt, muss man eine ganze Woche statt dem normalen Unterricht im Trainingsraum Aufgaben aus allen Fächern erledigen und bekommt einen Eintrag im Zeugnis“. Das habe ich tatsächlich nicht mitbekommen. Das muss ich gleich ausrechnen. Nach zwei Briefen Elterngespräch. Also nach sechs Besuchen. Dann noch einmal, also insgesamt siebenmal bedeutet einen ganzen Tag Trainingsraum. Dann noch drei Besuche, also insgesamt zehn, und man verbringt die ganze Woche dort. Das ist heftig. Carina hat Recht. Ich muss mich jetzt wirklich stärker zusammenreißen, sonst kommt dieses Schuljahr eine Menge Ärger auf mich zu. Als Carina auf ihr Handy schaut, sehen wir, dass wir eigentlich in drei Minuten im Kunstraum sein müssten. Das ist fast unmöglich. Hastig stürmen wir zur Schule. „Habt ihr etwa das Schulgelände verlassen?“ fährt uns eine wütende Stimme an, als wir gerade über den Parkplatz Richtung Hauptgebäude rennen. Nicht schon wieder Herr Zimmermann! Das ist jetzt richtig mies. Herr Zimmermann schreibt unsere Namen auf. Das bedeutet, dass wir Morgen in der zweiten Pause auf dem Schulhof Müll aufsammeln müssen. Das ist bei uns die Strafe für Schulgelände verlassen und für Rauchen. Natürlich kommen wir zu spät zu Kunst und kriegen vor der ganzen Klasse einen ordentlichen Anschiss von Herrn Siebert. Eigentlich ist Kunst ein entspanntes Fach, aber heute würde ich am liebsten die Farbgläser quer durch den Raum werfen. Stattdessen lege ich den Kopf auf den Tisch und male irgendetwas Sinnloses auf ein Blatt Papier. Das ist zwar nicht die Aufgabe für heute, aber Herr Siebert sagt nichts. Die Zeit vergeht unglaublich langsam. Irgendwann erlöst mich das Läuten der Schulglocke doch noch von diesem furchtbaren Schultag. Herr Siebert behält Carina und mich aber noch für eine weitere Strafpredigt da, in der es im Prinzip darum geht, was für freche Gören wir sind, dass wir erst zu spät kommen und dann nicht mitmachen. Das wird er unseren Klassenlehrern mitteilen. Zum Glück sind unsere Klassenlehrer Frau Stevens und Herr Yilmaz, mit denen man gut reden kann. Nach der Standpauke müssen wir noch alle Stühle hochstellen und den Klassenraum fegen, dann dürfen wir endlich gehen. Damit Carina ihren Bus noch erwischt, nehmen wir die verbotene Abkürzung über die Feuertreppe und werden unten schon erwartet. Natürlich von Herrn Zimmermann. Also noch eine Mitteilung an die Klassenlehrer und noch eine Pause Müll aufsammeln. Und zuhause erwartet mich auch noch Hausarrest. Schlimmer kann der Tag nicht mehr werden. Oder doch?