Dezember 10, 2024

Larissa Kapitel 8

Heute ist der erste Tag, an dem es nach Herbst riecht. Ich weiß nicht, ob das anatomisch gesehen geht, aber für mich hat der Herbst und besonders der Herbstanfang einen ganz eigenen Geruch, sowie auch der Frühling. Ich kann nicht sagen, wonach es riecht, aber was dieser Geruch in mir auslöst, kann ich sehr genau beschreiben: Erinnerungen und Gefühle. Erinnerungen an Nachmittagsspaziergänge im Wald, Mandarinen, Kürbissuppe, kühle Morgenstunden und lauwarme Nachmittage. Sich verfärbende Blätter, sich lichtende Baumkronen, abgeerntete Felder. Zur Ruhe kommen, mehr Zeit zuhause verbringen, die Wärme, die mich empfängt, wenn ich das Haus betrete. Das alles bedeutet für mich Herbst. Viele Menschen mögen den Herbst nicht, aber für mich hat er genauso viel Reiz wie jede andere Jahreszeit.

Auf dem Weg zum Bus sehe ich, dass ich nicht die Einzige bin, die die Veränderung bemerkt hat. Nur zwei Jungs tragen noch Shorts und T-Shirt, die ersten gehen schon mit Jacken zur Schule. Ich habe heute auch zum ersten Mal meine Sandalen zuhause gelassen und trage Turnschuhe. Ich freue mich, dass mein „Rudel“, also Ben, Thomas, Lukas und Felix an der Bushaltestelle sehe und begrüße jeden von ihnen mit einer Umarmung. Dabei bemerke ich, dass ich zwar noch größer als die Jungs bin, aber Ben mich bald eingeholt haben wird und irgendwie komme ich mir wie eine Wolfsmutter vor, dessen Junges bald das Rudel verlassen muss.

Der Schultag beginnt mit einer Doppelstunde Deutsch bei Herrn Paul. Ja, er heißt mit Nachnamen Paul, nicht mit Vornamen. Mit Vornamen heißt er Jörn. Genau, Jörn Paul. Klingt total blöd. Wahrscheinlich wurde er für seinen Namen früher gemobbt. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass er so streng ist. Also, eigentlich ist er nicht viel strenger als andere Lehrer, aber er kann richtig laut werden, wenn es in der Klasse unruhig ist. Das ist dann nicht so ein Schimpfen wie bei Herrn Zimmermann, bei dem man sich gleich mies fühlt, sondern nur so ein richtig lautes „RUHE JETZT!“, manchmal gefolgt von einem „VERDAMMT NOCHMAL!“ oder einem „ICH GLAUB’S JA NICHT!“. Das reicht schon aus, dass alle ruhig sind. Aber obwohl ich oft der Grund bin, warum er so laut wird, fühlt es sich ganz anders an als bei Herrn Zimmermann. Bei Herrn Paul weiß ich, dass sofort alles okay ist, wenn ich ruhig bin und mache, was er sagt. Bei Herrn Zimmermann denke ich immer, dass er mich hasst und mich bestrafen will. Herrn Paul geht es nur darum, dass er mit dem Unterricht weitermachen kann. Trotzdem gibt es auch bei Herrn Paul Strafen. Er hat da ein eigenes System. Die meisten Lehrer schicken einen beim Stören einfach in den Trainingsraum. Bei Herrn Paul gibt es die „Power Flower“. Blöder Name eigentlich. Im Prinzip ist das einfach nur eine Blume, die an die Tafel gemalt wird und wenn jemand dazwischenredet oder so, wird der Name in ein Blatt, oder eine Blüte geschrieben. In der Mitte ist ein Kreis, der den Blütenkelch darstellt. Die Mitte wird als letztes gefüllt und das bedeutet, dass die Blume voll ist und alle die drinstehen eine Strafarbeit schreiben müssen. Die Strafarbeit bedeutet eine Seite aus dem Deutschbuch abschreiben. Wer zweimal in der Blume, oder in der Mitte steht, muss die Arbeit doppelt machen. Nur wenn jemand noch stört, obwohl er schon zweimal in der Blume steht, oder die Blume voll geworden ist, schickt Herr Paul auch Schülerinnen in den Trainingsraum. Das kommt aber selten vor. Ich musste bei ihm überhaupt erst zweimal in den Trainingsraum, habe aber schon viele Strafarbeiten bekommen. Das finde ich aber besser, weil einem nichts weiter passiert, wenn man die Strafarbeit gemacht hat. Nur wenn man sie vergisst, gibt es einen Strich wie bei den Hausaufgaben und da ist Herr Paul wirklich sehr streng. Die meisten anderen Lehrer tragen einen in die Liste im Klassenordner ein, aber Herr Paul hat eine eigene Liste und bei ihm muss man schon nach drei Strichen in einem Halbjahr nachsitzen. Einen Strich gibt es für Hausaufgaben (oder Strafarbeit) vergessen, Sachen nicht dabeihaben und Zuspätkommen. Nachsitzen muss ich bei Herrn Paul oft, was ziemlich blöd ist, weil ich dann natürlich auch noch Hausarrest bekomme. Dabei ist das Nachsitzen selbst voll okay. Man muss dabei vergessene Hausaufgaben nachholen, oder Extraaufgaben machen. Das Gute ist, dass beim Nachsitzen immer nur zwei oder drei Schülerinnen da sind, manchmal war ich auch mit ihm allein. Aus irgendeinem Grund kann ich mich beim Nachsitzen viel besser konzentrieren als in der normalen Stunde und Herr Paul ist auch immer gut gelaunt und freundlich, solange man nicht auf die blöde Idee kommt, Streit mit ihm zu suchen. Das hat Diego einmal gemacht, als wir zusammen nachsitzen mussten, und Herr Paul hat ihn so richtig kleingemacht, dass ich ein bisschen Angst bekommen habe, obwohl ich Diego nicht leiden kann.

Auch heute ist es wieder sehr unruhig in der Klasse, aber als Herr Paul reinkommt, wird es gleich ruhig. Bei ihm müssen wir zur Begrüßung immer aufstehen und dürfen uns erst setzen, nachdem er „Guten Morgen, Klasse“ gesagt und wir mit „Guten Morgen, Herr Paul“ geantwortet haben. Ich weiß, dass das voll blöd klingt, aber ich mag das irgendwie. Es ist so ein bisschen wie beim Taekwondo, wo man sich zur Begrüßung in einer Reihe aufstellt und vor dem Meister verbeugt. Man spürt einfach, dass jetzt Konzentration angesagt ist und man aufhören sollte zu quatschen, oder Blödsinn zu machen.

Wir beginnen die Stunde direkt mit einem Diktat, was ich bei Herrn Paul ganz gerne mache, weil es in der Klasse dabei ganz ruhig ist und ich mich gut konzentrieren kann. Nachdem er das Diktat eingesammelt hat, geht es mit Grammatik weiter. Am Ende stehen nur Carina, Jost und Merle in der Blume, also muss niemand eine Strafarbeit schreiben und wir bekommen nicht einmal Hausaufgaben auf. Morgen werden wir dann das Diktat verbessern müssen.

Anschließend haben wir Englisch und ich stelle fest, dass Frau Stevens sich vom anbrechenden Herbst nicht beeindrucken lässt. Sie trägt ein ärmelloses Kleid und offene Schuhe mit höheren Absätzen, die aber noch nicht als High Heels durchgehen würden. Ihre Finger- und Zehennägel sind passend zu ihrem Kleid hellblau lackiert. Ich selbst bin nicht so ein großer Fan von Nagellack und mache das eigentlich nur, wenn ich meine Tage oder Hausarrest habe und mich ablenken muss. Schminken finde ich auch nicht so super und verdecke nur unreine Haut und Pickel. Zumindest versuche ich das, wenn auch mit wechselhaftem Erfolg. Dabei würde ich mich gerne mal so richtig hübsch machen, nur nicht übertrieben. So wie Frau Stevens ungefähr. Nur die hohen Schuhe würde ich weglassen, obwohl ich die auch schön finde. Das Einzige, worum ich mich wirklich gut kümmere, sind meine Haare. Ich habe sehr schöne Haare und passe auf, dass ich sie immer gut pflege. Vielleicht ist das das Einzige, worin ich ein typisches Mädchen bin.

Ich finde es aber auch Schade, dass die Meisten nur über das Aussehen von Frau Stevens reden, dabei ist sie zum Beispiel auch superintelligent. Sie spricht fließend Deutsch, Englisch, Spanisch und Italienisch. Sie sagt, dass sie sich auch auf Französisch gut unterhalten kann, aber nicht perfekt. Ich habe von Französisch gar keine Ahnung, aber ich glaube, dass sie bestimmt so gut spricht, dass die Franzosen es locker als „fließend“ durchgehen lassen würden.

Frau Stevens holt mich aus meinen Gedanken, indem sie mir eine Frage stellt und ich muss zugeben, dass ich nicht aufgepasst habe. Ich werde rot, weil ich mir vorstelle, zu sagen, dass ich darüber nachgedacht habe, wie schön und intelligent ich sie finde und dass ich überlege, sie zu meinem Vorbild zu machen. Das mache ich natürlich nicht und entschuldige mich bloß.

In der zweiten Pause müssen Carina und ich wieder Müll aufsammeln, aber Thomas und Ben begleiten uns, was die Strafe ein bisschen erträglicher macht und als sie Herrn Zimmermann parodieren, kriegen Carina und ich uns vor Lachen kaum noch ein.

Anschließend haben wir noch Physik und Chemie. In Physik lernen wir irgendwelche Formeln, aber in Chemie machen wir ein Experiment, was bis jetzt das spannendste Ereignis des Tages ist.

Anschließend kommt wieder die lange Mittagspause. Nach dem Essen setze ich mich mit Carina und den Jungs auf die Stufen vor dem Gymnasium. Thomas hat Chips mitgebracht, Felix eine große Cola, Ben Snackgurken und Carina Eistee. Ich bediene mich am Eistee und den Snackgurken. Es ist noch ein richtig schöner Sommernachmittag. Ich bekomme Lust, jemanden zu massieren und suche mir heute mal Felix als „Opfer“ aus. Während ich ihn massiere, reden Thomas und er über Fußball (die beiden sind Dortmund- Ben und Lukas Bayernfan, nur Ben interessiert sich kaum für Fußball). Daher frage ich Ben, ob er Lust hätte, mich mal zum Taekwondo zu begleiten und vereinbaren, dass er mich Morgen begleitet.

 Carina geht zwischendurch rauchen. Nachdem sie zurück ist, bittet sie mich darum, sie auch noch kurz zu massieren, weil sie so verspannt ist.

„Sag mal, kannst du eigentlich auch so richtig massieren, also wie deine Mum?“ Ich lache. „Du meinst auf einer Massageliege mit Öl und so? Puh, das habe ich früher mal bei Svenja gemacht. Mum hat mir da so ein paar Griffe gezeigt, aber das ist schon länger her. Keine Ahnung, ob ich das noch kann, warum?“

„Naja, ich glaube, dass mir eine richtige Massage gerade voll guttun würde. Ich bin die ganze Zeit total angespannt und schlafe auch schlecht. Ich müsste mal wieder richtig zur Ruhe kommen, verstehst du? Also ich würde dir auch etwas zahlen, aber eine Massage bei einer Masseurin kann ich mir nicht leisten.“

„Also zahlen musst du mir nichts. Ich frage Mum mal, ob sie mir nochmal die Griffe zeigt und ob ich mir mal ihre alte Liege ausleihen darf. Die kann man nämlich zusammenklappen und mitnehmen. Sie hat jetzt eine neue und braucht sie nicht mehr“.

Nach der Mittagspause haben wir Arbeitsstunde bei Herrn Yilmaz. Das heißt, wir erledigen unsere Hausaufgaben. Wenn wir keine haben, sollen wir Vokabeln lernen. Wenn wir eine Frage haben, dürfen wir uns melden und Herr Yilmaz hilft uns. Für die Arbeitsstunde gilt absolute Ruhe und man wird schon für die kleinste Störung in den Trainingsraum geschickt. Die einzigen Male, die ich bei Herrn Yilmaz in den Trainingsraum musste, waren Arbeitsstunden. Heute bin ich aber brav und versuche, den Stoff aus Mathe nachzuholen. Mit ein wenig Hilfe von Herrn Yilmaz gelingt mir das auch ganz gut und ich werde sogar mit den Hausaufgaben fertig.

Auf dem Weg zum Bus denke ich an Leonie und Tony. Vor allem an Tony und ich frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn wir uns Gestern zum Abschied auch geküsst hätten. Gerne würde ich ihn jetzt anrufen, aber leider habe ich seine Nummer nur auf dem Zweithandy, das ich in meiner Kiste mit den Bastelsachen versteckt habe. Zuhause helfe ich Svenja beim Kochen, da Mum später von der Arbeit kommt und Dad schläft, weil er Nachtschicht hatte. Nach dem Essen gehen wir mit Hunter und Wolf spazieren. Obwohl wir Schwestern sind, reden wir verhältnismäßig wenig miteinander. Svenja ist ein stiller Mensch und ich bin mir oft nicht sicher, ob ich sie mit meinem Reden nerve. Aus irgendeinem Grund fragt sie mich, wie ein Besuch im Trainingsraum abläuft, ob die Eltern gleich beim ersten Besuch informiert werden, ob es beim Elternsprechtag erwähnt wird und so weiter. Ich frage sie direkt, ob sie in der Schule Ärger bekommen hat, aber sie meint Nein, wird dabei aber rot. Bei jedem anderen würde ich denken, dass er mich anlügt, aber Svenja ist so brav, dass ich mir erstens nicht vorstellen kann, dass sie in der Schule Ärger bekommen könnte und es zweitens ausschließe, dass sie lügt. Beides passt nicht zu ihr. Sogar in den seltenen Fällen, in denen sie als Kind etwas angestellt hat, hat sie es immer direkt zugegeben, auch wenn es ihr extrem peinlich war. Dabei hätten unsere Eltern ihr wahrscheinlich sofort geglaubt, dass es meine Schuld gewesen wäre. Sie möchte noch wissen, ob Jungs Mädchen uncool finden, die noch nie im Trainingsraum waren und langsam verstehe ich, worauf sie hinaus möchte. Allerdings wird ihr das Thema dann so unangenehm, dass wir den restlichen Spaziergang schweigend verbringen.

Abends, nachdem ich mein Handy abgegeben und meinen Schlafanzug angezogen habe, hole ich das Zweithandy aus der Kiste und beginne, eine Nachricht an Tony zu schreiben. Da mir nichts Intelligentes einfällt, schreibe ich einfach „Hi!“. Tonys Antwort lässt nicht lange auf sich warten: „Na, du?“. Okay, das ist jetzt auch nicht viel kreativer. „Was treibst du?“ „Bin grad im JUZ. Und du?“ Na toll! Tony ist im Jugendzentrum und ich sitze hier im Schlafanzug auf meinem Fensterbrett. Geht es noch peinlicher? Wie gesagt: Ich mag es überhaupt nicht, wenn mich jemand außerhalb der Familie im Schlafanzug sieht, aber irgendwie habe ich gerade das Bedürfnis, Tony ein Bild von mir zu schicken. Ich zögere. Einerseits wäre mir das total unangenehm, andererseits habe ich das Gefühl, dass ich damit etwas sehr Persönliches mit ihm teilen und mich ihm auf eine gewisse Weise anvertrauen würde. Das löst ein Gefühl von tiefer, innerer Wärme in mir aus und auch eine gewisse Neugier auf seine Reaktion. Also mache ich ein Selfie, auf dem ich versuche, wie ein braves, kleines Mädchen in die Kamera zu schauen und schicke es ab.

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