Dezember 9, 2024

Larissa Kapitel 6

In Sport haben wir heute Vertretung bei Frau Steinfeld. Wir setzen uns zuerst in einen Kreis und besprechen die Stunde. Statt Brennball spielen wir heute Völkerball, was auch okay ist. Aber bevor es losgeht, nimmt Frau Steinfeld mich zur Seite. „Hast du deine Sportschuhe vergessen?“ „Nein“, antworte ich „ich mache immer barfuß mit, es sei denn wir spielen Basketball oder so“. Frau Steinfeld sieht mich verärgert an. „Und das erlaubt Helge, äh, Herr Behrens?“ Ich nicke. „Hast du Turnschuhe dabei?“ „Nö“. „Kannst du vielleicht die anderen Mädels fragen, ob jemand ein zweites Paar dabeihat?“  Ich sehe sie irritiert an. „Wieso? Ich sage ja, dass ich sonst auch ohne Schuhe mitmache. Das machen Carina und Thomas auch manchmal“. Frau Steinfeld überlegt. „Nein, das kann ich nicht machen. Hol dir einen Block und einen Stift. Du schreibst heute Protokoll“. „Aber warum denn?“ rufe ich. „Wer seine Sportsachen nicht dabeihat, schreibt Protokoll. Ganz einfach. Oder willst du lieber in den Trainingsraum?“ Das ist zu viel für mich. Sport ist mein absolutes Lieblingsfach. Wenn es in der Schule überhaupt etwas gibt, worauf ich mich freue, dann ist es Sport. Warum soll ich jetzt nicht mitmachen, nur weil unsere bescheuerte Vertretungslehrerin findet, dass das nicht barfuß geht? Was soll der Sinn dabei sein? In der Halle nebenan habe ich zum Beispiel donnerstags Taekwondo und da sind Schuhe sogar verboten. „Ich habe meine Sportsachen nicht vergessen! Ich habe genau die Sachen an, die ich immer beim Sport anhabe!“ schreie ich. „Gut, du gehst jetzt in den Trainingsraum!“ beendet Frau Steinfeld die Diskussion. Diego zeigt auf mich und tut so, als würde er weinen und Steffen zeigt mir wieder das Loser Zeichen, während Frau Steinfeld aus der Lehrerumkleide einen Trainingsraumzettel holt. Tatsächlich bin ich fast am Weinen. Als ich zur Umkleide gehe, kommt mir Carina entgegen. Anscheinend hat sie sich verspätet. Auch sie ist barfuß. „Vergiss es, wir dürfen nicht barfuß mitmachen. Pass auf, dass dieses Miststück dich nicht auch in den Trainingsraum schickt“. Carina umarmt mich lächelnd und sagt „ich weiß. Ich habe alles gesehen. Bis gleich“. Nachdem ich mich umgezogen habe und gerade aus der Umkleide gehen will, kommt Carina zurück. Sie hat auch einen Trainingsraumzettel in der Hand. „Ich habe von oben gesehen, wie sie mit dir umgegangen ist. Weißt du, eigentlich hätte ich meine Turnschuhe ja dabeigehabt, aber ich dachte mir, wir sollten zusammenhalten“. Carina ist wirklich eine tolle Freundin. Ich warte, bis sie sich umgezogen hat und wir machen uns gemeinsam auf den Weg zum Trainingsraum, wie in alten Zeiten.

Heute ist kein Schild an der Tür. Herr Peters hat Aufsicht. „Im Trainingsraum wird nicht gequatscht. Ich erwarte absolute Stille!“ ermahnt er Carina und mich, während er uns die Arbeitsblätter überreicht. Ich denke an Leonies Parodie seiner Predigt und muss grinsen. Leonie ist leider nicht da, nur zwei kleine Jungs, vermutlich Fünftklässler und ein Schüler aus der achten oder neunten Klasse der Hauptschule, mit dem ich letztes Jahr einmal zusammen Müll aufsammeln musste. Herr Peters weist Carina einen Platz ganz hinten und mir einen ganz vorne, gleich bei der Tür zu. Wieder einmal strenge ich mein Gehirn an, um das Arbeitsblatt so auszufüllen, dass die Lehrerin zufrieden ist.

Warum wurde ich in den Trainingsraum geschickt?

Ich hatte heute eine Doppelstunde Sport. Normalerweise haben wir bei Herrn Behrens, aber heute hatten wir Vertretung bei Frau Steinfeld. Ich mache bei Sport meistens barfuß mit, weil ich das auch beim Taekwondo kenne und finde, dass man Schuhe nur für Fußball, Basketball und ein paar andere Sachen braucht. Ich wurde in den Trainingsraum geschickt, weil ich bei Sport wie immer ohne Schuhe mitmachen wollte und Frau Peters das nicht erlaubt hat. Sie wollte, dass ich ein Protokoll schreibe. Das wollte ich nicht und habe mit ihr gestritten. Sie hat mir eine Verwarnung für den Trainingsraum gegeben und ich habe trotzdem nicht aufgehört zu streiten. Darum musste ich in den Trainingsraum.

Gegen welche Regel habe ich verstoßen?

Ich habe gegen die Regel verstoßen, dass die Schüler auf die Lehrer hören müssen. Ich habe nicht gemacht, was Frau Steinfeld mir gesagt hat und mit ihr gestritten.

Wofür ist die Regel, gegen die ich verstoßen habe, gut?

Wir sollen auf unsere Lehrer hören, damit sie uns ungestört unterrichten können.

Welche Folgen hatte mein Fehlverhalten für meine Mitschülerinnen und Mitschüler und meine Lehrerin/meinen Lehrer?

Mein Fehlverhalten hatte zur Folge, dass Frau Steinfeld den Unterricht nicht beginnen konnte. Das war auch schlecht für meine Mitschüler, weil sie das Recht haben, zu lernen, ohne dabei gestört zu werden.

Warum habe ich gegen die Regeln verstoßen?

Ich habe mich darüber geärgert, dass ich nicht mitmachen durfte. Ich wollte kein Protokoll schreiben, sondern normal mitmachen.

Was werde ich in Zukunft anders machen?

Wenn mir ein Lehrer sagt, dass ich nicht mitmachen darf und Protokoll schreiben muss, werde ich auf ihn hören und mich nicht mit ihm streiten.

Was werde ich tun, damit ich wieder am Unterricht teilnehmen darf?

Ich werde mich bei Frau Steinfeld entschuldigen und ihr versprechen, dass ich in Zukunft auf sie hören werde.

Welche Hilfe/Unterstützung brauche ich, um mich künftig an die Regeln halten zu können?

Ich brauche keine Hilfe oder Unterstützung.

Diesmal bin ich schon nach einer Viertelstunde fertig. Ich zeige Herrn Peters meinen Aufsatz, der ihn zufrieden unterschreibt, auf meinem Trainingsraumzettel die Uhrzeit notiert und mich gehen lässt. Ich sehe nach hinten zu Carina, die mir zwei Finger zeigt. Entweder muss sie noch zwei Fragen ausfüllen, oder sie braucht noch zwei Minuten. Also warte ich vor der Tür. Kurz darauf kommt sie auch aus dem Trainingsraum. „Toll, jetzt haben wir trotzdem noch die ganze zweite Stunde vor uns, in der wir Protokoll schreiben müssen“ fluche ich. Carina nickt. „Ja, das ist voll nervig“. Das fiese ist, dass die Arbeitsblätter, die man im Trainingsraum ausfüllen muss, knallrot sind. So weiß jeder, der einen auf dem Rückweg vom Trainingsraum sieht, gleich, wo man herkommt. Carina zeigt mir den Elternbrief, den Herr Peters ihr mitgegeben hat. „Blöd. Bei mir war es das dritte Mal in diesem Schuljahr“. „Echt? Ich wusste gar nicht, dass du dieses Jahr überhaupt schon warst. Letztes Jahr musstest du doch voll selten. Bekommst du Ärger?“, frage ich. „Naja, in der ersten Woche habe ich in Reli heimlich Musik gehört und letzte Woche hatte ich einen Streit mit Siebert, weil er mir für mein Bild eine Fünf gegeben hat. Dafür habe ich in der Stunde ein Bild von ihm gemalt. Also ein Nacktbild, mit so einem kleinen Detail. Einem ganz, ganz kleinen Detail, hehe. Das fand er nicht so lustig. Also ich weiß nicht, ob ich Ärger kriege. Ich glaube, meine Eltern interessiert eh nicht, was ich mache. Letztes Jahr war ich richtig brav und musste gar nicht in den Trainingsraum, auch nicht nachsitzen oder so. Ich habe mich richtig zusammengerissen für meine Eltern, aber sie haben trotzdem dauernd gestritten und jetzt reden sie nicht einmal mehr miteinander. Dann kann ich das mit dem Brav Sein auch gleich lassen. Ich glaube, ich werde jetzt so ein richtiges Bad Girl und kümmere mich gar nicht mehr darum, was meine Eltern oder Lehrer sagen. Ich mache nur noch, was ich will“. Na dann, denke ich. Seit ein paar Wochen nennt sich Carina auf ihrem Social Media Profil „Bad Girl Rini“, ich dachte aber bis jetzt, dass das eine Anlehnung an Rihanna ist, die sich „Bad Girl Riri“ oder so nennt. Das mit dem Bild von Herrn Siebert ist natürlich gemein. Eigentlich ist er eh ganz nett, aber er kann sich kein bisschen durchsetzen und wird deshalb von den Schülern gemobbt. Wenn er versucht, streng zu sein, übertreibt er voll und macht einen richtig fertig. Trotzdem habe ich eher Mitleid mit ihm. Natürlich ziehen wir uns nicht mehr unsere Sportsachen an, sondern nur die Schuhe aus und betreten die Sporthalle. Frau Steinfeld steht mit Trillerpfeife und Stoppuhr am Spielfeldrand. Toll! Es spielen die Mädels gegen die Jungs. Wenn ich dabei wäre, würden wir sicher gewinnen, weil ich richtig gut ausweichen, aber auch ziemlich gut werfen kann. Wir warten, bis der Weg frei ist und stellen uns neben Frau Steinfeld, die uns wütend ansieht. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich vorhin nicht auf Sie gehört habe und mit Ihnen gestritten habe. Es tut mir leid. Ich werde in Zukunft machen, was Sie sagen“ rattere ich meinen Text herunter. Carina stellt den Satz bei ihrer Entschuldigung nur ein wenig um. Wir wollen Frau Steinfeld unsere Arbeitsblätter geben, aber sie winkt ab. „Schon gut. Ihr setzt euch jetzt auf die Bank und schreibt Protokoll. Kein Quatschen. Ist das klar?“ „Ja, Frau Steinfeld“. Während wir zum Rand der Turnhalle gehen, bekomme ich mit voller Wucht den Ball an den Hinterkopf und drehe mich um. Steffen grinst mich fies an. „Passt auf, dass ihr den anderen nicht im Weg rumsteht. Runter jetzt vom Spielfeld!“ brüllt uns Frau Steinfeld hinterher. Vorhin habe ich ja gesagt, dass es nur zwei Sachen gibt, die ich hasse. Ab jetzt stehen auch Steffen und Frau Steinfeld auch auf meiner Liste.

Für mich lohnt es sich nicht, in der Pause in die Klasse zu gehen, weil ich danach ja wieder in den Trainingsraum muss und ich nicht zweimal über den ganzen Schulhof gehen möchte. Ben, Felix und Thomas sind so nett und verbringen mit mir die Pause auf der kleinen Wiese vor dem Hauptgebäude. Carina geht noch schnell in die Ecke hinter der Garage, in der unsere Hausmeister den Rasenmäher und andere Geräte lagern, um schnell noch eine zu rauchen. Die Jungs und ich passen dabei auf, dass sie nicht erwischt wird. Ich unterhalte mich mit den Jungs über Taekwondo. Das interessiert vor allem Thomas sehr und ich verspreche ihnen, dass ich ihnen mal ein paar Grundlagen beibringen werde. Damit ist die Pause auch schon wieder vorbei. Carina geht mit den Jungs in unsere Klasse und ich mache mich wieder auf den Weg zum Trainingsraum.

Da ich ein paar Minuten vor dem Läuten da bin, muss ich wieder kurz warten, bis Herr Jürgens in Begleitung eines großen, gutaussehenden Jungen kommt und die Tür öffnet. „Hallo Larissa, alles gut bei dir? Das ist Herr Seidl. Er stellt sich dir gleich noch selbst vor. Aber setzen wir uns doch erst einmal“. Okay. Ich bin verwirrt. Ich habe Herrn Seidl noch nie gesehen und kann mir irgendwie schwer vorstellen, dass er Lehrer ist, weil er dafür noch zu jung wirkt. Ich hätte ihn mit seinen schönen langen, braunen Locken, seinem freundlichen, jugendlichen Gesicht und seiner Kleidung (blaues Oversized T-Shirt mit einem Aufdruck in weißer Schrift, die ich aber nicht entziffern kann, schwarze Shorts und Flip-Flops) auf sechzehn oder siebzehn geschätzt, vielleicht auch achtzehn, aber ganz bestimmt nicht auf über zwanzig. „Nenn mich bitte Tom. Ich studiere gerade Sport und Deutsch auf Lehramt und habe vorher eine Ausbildung als Erzieher gemacht und arbeite hier dieses Jahr nebenbei als Trainingsraumaufsicht und beim Verhaltenstraining“. Häh? Verhaltenstraining? Was ist das denn schon wieder? Naja, egal. Jedenfalls fällt es mir schwer, meine Augen von Tom zu lassen und ich merke, dass ich rot anlaufe. „Äh cool“ antworte ich und versuche, dabei lässig zu klingen, obwohl ich total nervös bin. „Nenn mich ruhig Larissa. Oder Rissi. Oder wie du möchtest. Ist mir egal“. Nervös lächle ich ihn an. Was rede ich da für einen Blödsinn? Niemand nennt mich Rissi. Ich mag keine Spitznamen und rede auch andere lieber mit ihrem richtigen Namen an. Dina zum Beispiel. Sie möchte von allen nur noch Dinchen genannt werden. Wie dumm ist das? Okay, Dina klingt nach Diener, aber sie könnte sich doch Dini nennen, oder Didi. Und wie komme ich jetzt überhaupt auf Rissi? Ich ärgere mich über mich selbst, kann aber nicht aufhören, weiter Blödsinn von mir zu geben: „Wie alt bist du denn, Tom? Oh und du wirst Sportlehrer, oder? Was ist denn dein Lieblingssport? Machst du auch Kampfsport? Ich mache nämlich Taekwondo und habe den blauen Gürtel, aber bald sind wieder Prüfungen. Ach ja, und Sport ist mein absolutes Lieblingsfach. Bekommen wir dich dann auch irgendwann in Sport?“. Was ist los mit mir? Warum benehme ich mich jetzt so oberpeinlich? Ich bin so neugierig und möchte am liebsten gleich alles über Tom erfahren. Ich stelle mir vor, dass er den schwarzen Gürtel in Taekwondo hat, oder in Karate und vielleicht in meinem Verein als Trainer anfängt. Und Kanu fährt er bestimmt. Mit meiner Family habe ich vor zwei Jahren im Urlaub eine Kanutour gemacht. Vielleicht nimmt Tom mich auch mal auf eine Tour mit. Nein, Blödsinn. Er ist Lehrer, oder wird es zumindest und ich bin Schülerin. Aber vielleicht macht er irgendwelche coolen Projekte mit Jugendlichen, bei denen ich mitmachen kann…

„Boah, das waren jetzt aber viele Fragen. Also ich bin zweiundzwanzig. Ich mache keinen Kampfsport. Ich habe früher mal Karate gemacht, habe aber schon lange aufgehört. Ich spiele Fußball und schwimme. Aber ich glaube, du solltest jetzt erstmal deine Aufgaben machen“. Natürlich. Ich krame mein Arbeitsblatt heraus, auf dem mir Herr Zimmermann eine Anmerkung notiert hat. Die habe ich noch gar nicht gelesen. „Larissa, warte einen Moment“ unterbricht mich Herr Jürgens. Oh Gott, ich habe ganz vergessen, dass Herr Jürgens die ganze Zeit da war und habe ihn gar nicht beachtet. „Tom soll auch lernen, im Trainingsraum Gespräche mit den Schülerinnen zu führen. Da ich dich schon gut kenne, aber er dich noch gar nicht, wäre es für ihn eine gute Gelegenheit, mit dir ein Gespräch zu führen und ich höre ihm zu und sage ihm später, was mir dabei aufgefallen ist. Ist das okay für dich?“ Natürlich ist das okay. „Oh ja, voll in Ordnung. Frag mich alles, was du möchtest, Tom. Du siehst ja, dass ich gerne rede. Also eigentlich rede ich immer die ganze Zeit. Darum bin ich auch so oft hier. Nur heute nicht. Heute bin ich da, weil Herr Zimmermann…“ Herr Jürgens unterbricht mich und mein Redefluss ist mir auf einmal total peinlich.

Tom nimmt sich einen Stuhl und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Herr Jürgens legt meinen Trainingsraumordner auf den Tisch und ich denke sofort, dass es ein Fehler war, ja zu sagen, weil er jetzt sieht, wie oft ich schon im Trainingsraum war und hält mich jetzt bestimmt für ein böses Mädchen, das nur Ärger macht. „Gut, ich sehe, dass du nicht zum ersten Mal im Trainingsraum bist. Also kennst du den Ablauf ja. Dann muss ich dir das nicht erklären. Gibst du mir bitte deinen Trainingsraumzettel? Ach so, ich sehe gerade, dass du heute zum zweiten Mal im Trainingsraum bist. Dann müssten dich jetzt eigentlich deine Eltern abholen…“ Er sieht Herrn Jürgens fragend an. „Nein!“ werfe ich hastig ein. „Also ja, ich bin heute zum zweiten Mal hier, aber ich bin heute nur in Sport rausgeflogen, weil ich mich mit Frau Steinfeld gestritten habe und jetzt bin ich hier, weil ich Gestern bei Herrn Zimmermann rausgeflogen bin und er wollte, dass ich bei meinem Rückkehrplan noch etwas verbessere“. Tom sieht wieder Herrn Jürgens an. „Das passt schon so. Lies dir mit ihr zusammen den Rückkehrplan durch und sieh dir an, was Johannes noch anders haben möchte. Aber lass dir Larissa erst einmal erzählen, was aus ihrer Sicht passiert ist. Dazu bin ich Gestern nicht gekommen“. Tom lehnt sich zurück. „Okay, was ist denn passiert? Warum bist du heute hier?“ Jetzt klingt Tom irgendwie doch wie ein Lehrer. Also wiederhole ich noch einmal die ganze Geschichte. „Ah ja. Und du hast Gestern schon einen Rückkehrplan geschrieben. Was hat Johannes, ich meine Herr Zimmermann, dazu gesagt?“

Ich zucke mit den Schultern und lese mir die Anmerkung durch. Es geht um den Punkt

„Was werde ich tun, damit ich wieder am Unterricht teilnehmen darf?“

Meine Antwort war:

Ich werde mich bei Herrn Zimmermann entschuldigen und versprechen, mich an die Regeln zu halten.

In roter Farbe steht jetzt am Rand: Entschuldigung auch bei Steffen fällig. Für den Mittelfinger.

Ich fasse es nicht. Steffen hat mir doch zuerst das Loser Zeichen gezeigt und noch reingerufen, als er mich verpetzt hat. Für das Reinrufen hat Herr Zimmermann sogar seinen Namen an die Tafel geschrieben. Nur weil er das Loser Zeichen nicht gesehen hat, oder nicht sehen wollte, bin ich an allem schuld? Ich finde es schon total unfair, dass ich mich bei Herrn Zimmermann entschuldigen muss. Aber bei Steffen? Der sollte sich doch viel eher bei mir entschuldigen!

„Ah ja. Steffen ist der Junge, dem du den Mittelfinger gezeigt hast. Du hast ja selbst geschrieben, dass er sich verletzt gefühlt hat. Dann hat Johannes Recht. Bei ihm solltest du dich auch entschuldigen“. Kurz bekomme ich eine unglaubliche Wut auf Tom. Warum ist er auf der Seite von Herrn Zimmermann? Ich dachte, Tom wäre cool, aber er ist auch nicht besser als die anderen Trainingsraumlehrer, zum Beispiel Herr Peters. Dann fällt mir ein, dass Tom ja gar nicht dabei war und meine Sicht noch gar nicht gehört hat. Okay, Tom kann nichts dafür und ist vielleicht ja doch so cool wie ich erst dachte. Einerseits will ich ihm meine Version erzählen, damit er nicht denkt, dass ich so ein ungezogenes Kind bin, das aus Spaß den Mittelfinger zeigt. Andererseits weiß ich aus Erfahrung, dass die Lehrer bei so etwas immer gewinnen und man am als Schülerin am besten gleich sag, dass man einsieht, warum der Lehrer einen hergeschickt hat, verspricht sich zu entschuldigen und ab sofort brav zu sein. Darauf läuft es am Ende sowieso hinaus. Wenn man bei seiner Meinung bleibt, gibt es ein Gespräch mit den Eltern und den Klassenlehrern und selbst wenn man von den Eltern unterstützt wird (was meine Eltern nicht machen würden), geht es weiter zur Schulleitung und dann kann es passieren, dass man suspendiert wird oder gleich von der Schule fliegt. In meinem Fall würden meine Eltern mir einfach so lange Hausarrest und Handy- und Fernsehverbot geben, bis ich zugebe, dass ich gelogen habe und mich bei Herrn Zimmermann und bei Steffen entschuldige. Hilflos sehe ich Herrn Jürgens an. „Du findest, dass du dich nicht bei Steffen entschuldigen musst. Richtig?“. Wenigstens versteht mich Herr Jürgens. Ich nicke. „Du weißt aber auch, dass du einen Fehler gemacht hast und Herr Zimmermann als dein Lehrer entscheidet, ob du wieder am Unterricht teilnehmen darfst?“ Wieder nicke ich. Leider entscheidet das wirklich Herr Zimmermann. Ich bin mir sicher, dass Herr Yilmaz zum Beispiel viel gerechter vorgegangen wäre. Wahrscheinlich hätte auch er mich in den Trainingsraum geschickt, aber Steffen auch und er hätte darauf bestanden, dass wir uns beide entschuldigen und nicht nur ich. Das würde ich dann sogar machen, auch wenn ich Steffen nicht leiden kann. Aber wenn er sich entschuldigt, entschuldige ich mich auch. Aber leider ist das nicht bei Herrn Yilmaz, sondern bei Herrn Zimmermann passiert und Herr Jürgens hat damit Recht, dass Herr Zimmermann am längeren Hebel sitzt und nur er entscheidet, wie es weitergeht. Wenn ich nicht mache, was er sagt, bekomme ich nur noch mehr Ärger. Genervt schreibe ich unter meine alte Antwort: Ich werde mich auch bei Steffen dafür entschuldigen, dass ich ihm den Mittelfinger gezeigt habe.

Herr Jürgens notiert die Uhrzeit auf meinem Trainingsraumzettel und während ich den Trainingsraum verlasse, beobachte ich noch, dass Tom meinen Ordner durchliest und Herr Jürgens ihm dabei irgendetwas erklärt. Was reden die beiden jetzt wohl? Und was denkt Tom von mir? Warum habe ich mich wieder so blamiert?

Auf dem Flur stelle ich mich an die Wand gegenüber und schlage meine Stirn mehrfach gegen die Wand. Also nicht fest, nur ganz leicht. Keine Ahnung warum. Vielleicht will ich mich irgendwie selbst bestrafen, vielleicht muss ich auch nur irgendwie meine Wut rauslassen. Ich bin sooooo dumm!!!

„Vergiss es, durch die Wand kommst du nicht durch. Stein ist härter als Holz. Aber gegen die Tür könntest du gewinnen. Ich habe letztes Jahr aus Versehen eine kaputtgemacht. Besonders stabil sind die nicht“.

Leonie grinst mich frech an. Sie trägt wieder eine Cap mit dem Schirm nach hinten. Dazu einen viel zu großen Pullover und Baggies. Ich bin so froh, sie zu sehen.

„Ich will ja auch verlieren. Du weißt nicht, wie unglaublich dumm und peinlich ich bin. Ich glaube, ich habe mich gerade voll an den neuen Trainingsraumlehrer rangemacht. Also der ist kein richtiger Lehrer, sondern Erzieher und wird noch Lehrer und er sieht so unglaublich gut aus und äh, egal. Jedenfalls habe ich die ganze Zeit nur voll den peinlichen Blödsinn gelabert. Ach ja und jetzt muss ich mich noch bei Steffen, diesem Jungen aus meiner Klasse entschuldigen, dem ich den Mittelfinger gezeigt habe, obwohl er mich provoziert hat. Aaah! Ich hasse mein Leben. Ich will jetzt einfach ganz schnell K.O. gehen und erst Samstag wieder aufwachen, oder in den Ferien, oder wenn ich achtzehn bin. Keine Ahnung. Jetzt sag du doch auch mal was!“

Leonie zuckt mit den Schultern. Die Hände hat sie lässig in den Hosentaschen.

„Also, wenn die Wand zu schwach ist, kann ich dich später verhauen, wenn wir bei mir sind. Darin bin ich gut. Aber jetzt sei ein braves Mädchen und geh in die Klasse. Ich sehe mir jetzt mal diesen neuen Trainingsraumlehrer, oder Erzieher an. Wehe, du hast mich angelogen. Ich habe jetzt richtig hohe Erwartungen. Wenn er hässlich ist, kriegst du Ärger. Sehen wir uns in der Pause?“

Bevor ich die Klasse betrete, atme ich noch einmal tief durch. Wieder einmal steht mir eine große Demütigung vor der ganzen Klasse bevor. Ich stehe in Kampfstellung und atme dreimal tief ein und aus. Ich denke an das Taekwondo Training und wie wichtig ein guter Stand ist. Ich entspanne mich und fühle mich gleich ein bisschen selbstbewusster. Ich öffne die Tür und stelle mir vor, ich würde nicht die Klasse, sondern das Dojang betreten. Ohne die Anderen zur Kenntnis zu nehmen, gehe ich geradewegs nach vorne und lege Herrn Zimmermann mein Arbeitsblatt auf das Pult. Wieder lässt er sich viel Zeit, bevor er es zur Kenntnis nimmt. Die Klasse arbeitet weiter an ihren Aufgaben. „Also gut Larissa, möchtest du noch etwas sagen?“ beendet Herr Zimmermann irgendwann die Stille. Jetzt sehen mich natürlich alle an. „Äh, ja. Also es tut mir leid, dass ich mich Gestern so schlecht benommen habe. Ich will mich ab jetzt an die Regeln halten. Und Steffen, bitte entschuldige, dass ich dir den Mittelfinger gezeigt habe. Das war dumm von mir und es kommt nicht wieder vor“. Steffen grinst, als wären heute gleichzeitig Weihnachten, Ostern und sein Geburtstag und er dürfte jetzt einen großen Berg Geschenke auspacken. Auch Diego, Hendrik und Jost grinsen mich schadenfroh an. Dina sieht mich mit einem derart strengen Blick an, dass man glauben könnte, sie wäre die Lehrerin. Ich weiß, dass sie mich nicht besonders mag, obwohl ich ihr nie etwas getan habe. Außer vielleicht, dass ich mich weigere, sie „Dinchen“ zu nennen. Ben, Felix und Thomas sehen so aus, als wollten sie mich trösten. Voll süß. Carina zwinkert mir verschwörerisch zu und ich bin mir nicht sicher, was das bedeuten soll. Herr Zimmermann lässt mich noch eine gefühlte Ewigkeit neben dem Pult stehen, bevor er mir befiehlt, mich wieder zu setzen. Natürlich denke ich gar nicht daran, mich noch wirklich mit Mathe zu beschäftigen. Ich nehme mir ein Blatt und kritzle vor mich hin und ärgere mich, dass Herr Zimmermann nichts dazu sagt, dass Diego, Hendrik, Jost und Steffen die ganze Zeit tuscheln (ich höre mehrfach meinen Namen) und kichern. Auch von der anschließenden Reli Stunde bekomme ich nicht wirklich viel mit. Das Thema ist auch irgendwie deprimierend. Es geht um den Tod. Ich stecke mir heimlich meine Kopfhörer an und höre Musik. Nebenbei kritzle ich weiter auf meinem Blatt herum.

Nach der Stunde erwartet mich die hoffentlich letzte Demütigung für heute. Carina und ich gehen zum Hausmeisterbüro, um uns Eimer und Greifer zu holen, mit denen wir in der Pause den Müll aufsammeln sollen. Wir sind heute für den Bereich rund um die Sporthall zuständig. Hendrik und Jost kommen an uns vorbei, als sie gerade zum Supermarkt gegenüber gehen und werfen auf dem Rückweg ihren Müll vor uns auf den Boden und brüllen uns an „Los, das könnt ihr gleich aufsammeln. Beeilt euch, worauf wartet ihr?“ Carina will schon mit dem Greifer auf die beiden losgehen, als Frau Stevens aufkreuzt und die beiden Jungs gleich für Morgen zum Müll aufsammeln einteilt. Das ist einerseits eine Genugtuung, andererseits sind Carina und ich Morgen auch wieder dran und wenn wir Pech haben, werden wir aufgeteilt und eine von uns muss mit Jost und die andere mit Hendrik gehen. Selten habe ich mich so über das Ende einer Pause gefreut. Jetzt nur noch die Doppelstunde Informatik bei Yilmaz und dann treffe ich endlich Leonie. Tatsächlich verläuft die Informatik Doppelstunde vollkommen entspannt. Ich bin in einer Gruppe mit Ben, Felix und Thomas und wir arbeiten sehr gut zusammen. Das Tolle an Ben ist, dass er so genau ist, sich Anweisungen sorgfältig durchliest und Zusammenhänge nicht nur schnell versteht, sondern auch super erklären kann. Tatsächlich macht die Doppelstunde richtig Spaß und beim Klingeln freue ich mich schon auf die nächste Einheit.

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