Es gibt viele Sachen, die ich nicht mag, aber eigentlich nur zwei, die ich wirklich hasse. Das eine ist Herr Zimmermann, bei dem ich heute wieder Mathe habe und das andere ist mein Wecker, der mich gerade viel zu früh aus dem Schlaf reißt. Zuerst schaffe ich es nicht, mich auch nur ansatzweise zu bewegen. Ich fühle mich, als würde ich unter einem Nashorn liegen. Nicht dass ich diese Erfahrung schon einmal gemacht hätte, aber schlimmer kann sich das auch nicht anfühlen. Leider habe ich auch nicht die Möglichkeit, den Wecker einfach auszuschalten, weil meine Eltern bestimmt haben, dass er am anderen Ende meines Zimmers stehen muss. Mir ist klar, dass das Klingeln mit der Zeit immer lauter und nerviger wird, daher versuche ich, mir Stück für Stück die Kontrolle über meinen Körper zu erkämpfen. Zuerst gelingt es mir, mit den Zehen zu wackeln und meine Hände zu Fäusten zu ballen. Das ist schonmal ein guter Anfang. Meine erste sportliche Höchstleistung besteht heute Morgen dann darin, mich auf die Seite zu legen und mir noch einmal das Kissen über den Kopf zu ziehen. Okay, das sieht nicht gerade nach einer olympiareifen Performance aus, kostet mich aber so viel Kraft wie einem Sprinter, der die hundert Meter in neun Sekunden läuft und danach fühle ich mich, als hätte ich gerade als vierzehnjähriges Mädchen neun Runden gegen einen Schwergewichtsboxer gekämpft. Mittlerweile ist der Wecker so laut, dass ich mühsam meine Beine aus dem Bett schwinge und das nervige Teil zum Schweigen bringe. Es ist noch reichlich Zeit, bis ich zur Schule muss, aber meine Eltern legen Wert darauf, dass Svenja und ich immer früh aufstehen, damit wir uns nicht daran gewöhnen, unpünktlich zur Schule zu kommen. Svenja hat mit dem frühen Aufstehen übrigens gar kein Problem. Sie steht sowieso immer als Erste auf, bereitet für uns alle das Frühstück vor und sieht fern, bis die restliche Familie aufsteht. Auch jetzt läuft der Fernseher und Svenja liegt auf dem Sofa. Auf dem Küchentisch steht wie immer ein duftendes Frühstück, mit aufgebackenen Brötchen, gekochten Eiern und liebevoll angerichteten Wurst- und Käsetellern, aufgeschnittenen Tomaten und Gurken und von ihr und Mum selbst gemachtem Aufstrich. Für unsere Eltern steht auch frischgebrühter Kaffee bereit, den ich leider noch nicht trinken darf. Mum sagt immer, dass Svenjas künftiger Mann im Paradies leben wird, wobei ich ihr Recht gebe. Das bedeutet allerdings, dass mein künftiger Mann ein schweres Los haben wird. Er wird ein freches Mädel am Hals haben, das vor zehn Uhr zu nichts zu gebrauchen ist, überall ihre Socken herumliegen lässt und auch sonst viel Chaos anrichtet, viel zu viel redet, dauernd schlechte Witze erzählt, ständig in irgendwelche Fettnäpfchen tritt und das man nicht allein in die Küche lassen sollte, wenn man nicht gerade plant das Haus abzubrennen. Dafür bin ich sportlich, habe schöne Haare, bin für jeden Blödsinn zu haben, kenne mich super mit Erste Hilfe aus (Dad besteht darauf, dass wir regelmäßig üben, Druckverbände anzulegen, jemanden in die stabile Seitenlage zu bringen und Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen) und bin handwerklich geschickt. Ich kann sogar bei unserem Land Rover die Reifen wechseln. Außerdem kann ich gut massieren. Sogar sehr gut. Das sagt auch meine Mum, die es ja wissen muss (und mir einige Griffe beigebracht hat). In der Schule massiere ich auch häufig meine Freundinnen und Freunde und andere würden nur zu gerne eine Massage von mir bekommen, aber ich massiere nicht jeden. Ach ja: Mich muss man auch nicht beschützen, weil ich mich sehr gut selbst wehren kann. Ich habe den blauen Gürtel in Taekwondo und lerne gerade Kickboxen. Ich habe nur leider das Gefühl, dass sich die meisten Jungs vor mir fürchten, obwohl ich finde, dass ich voll nett und harmlos bin, nur ein bisschen überdreht. Jedenfalls hat mich in der Schule noch keiner angesprochen. In meiner Klasse sind andererseits auch keine Jungs, die mich wirklich interessieren würden. Steffen und Diego sind eingebildete Machos, Hendrik und Jost sind Mitläufer, die alles machen, um mit Steffen und Diego abhängen zu dürfen. Ahmed, Sergej und Noah sind ganz nett, aber irgendwie langweilig. Lukas, Felix, Thomas und Ben mag ich sehr gerne, aber eben nur freundschaftlich. Mit ihnen verbringe ich manchmal die Pause und sie sind die einzigen Jungs, die von mir Massagen bekommen. Manchmal fühle ich mich auch wie ihre große Schwester oder ihre Mum. Manchmal vergleiche ich mich auch mit einer Hündin, die ihre Welpen beschützt und versorgt, auf die aber auch alle hören. Aber ich war ja gerade dabei, die Jungs aufzuzählen. Also gut. Abdalla sieht zwar richtig gut aus, ist mir optisch aber zu durchtrainiert und erinnert mich damit an Dad. Mäx ist der zweite gutaussehende Mädchenschwarm in unserer Klasse. Aber er hat seit der fünften Klasse ungefähr alle drei Wochen eine neue „Freundin“ und manchmal auch zwei gleichzeitig. In der sechsten Klasse war ich auch mal kurz mit ihm „zusammen“. Viel passiert ist damals natürlich nicht. Ich habe ihn ein paar Mal besucht und er mich. Wir waren zwei-drei Mal zusammen im Freibad, er hat mich zu seinem Geburtstag eingeladen und mitgenommen, als er mit seinen Freunden bowlen gegangen ist. Dann wollte er mit mir shoppen gehen und hat mir dabei immer gesagt, welche Sachen mir gutstehen würden, auch wenn ich mich darin gar nicht wohlgefühlt habe. Das war schon sehr komisch. Vor allem hätten wir eh kein Geld gehabt, um etwas zu kaufen. In der Schule haben wir Händchen gehalten und ich habe ihn ein paar Mal massiert. Dafür musste ich sogar einmal in den Trainingsraum, weil ich nicht mitbekommen hatte, dass die Pause vorbei war und Frau Stevens mit dem Unterricht anfangen wollte. Sie hat mich an die Tafel geschrieben und weil ich dann nicht gleich mit dem Massieren aufgehört habe, musste ich in den Trainingsraum. Ach ja, genau. Trainingsraum. Bis jetzt saß ich die ganze Zeit gedankenverloren am Frühstückstisch, aber der Gedanke an den Trainingsraum holt mich wieder zurück und mir wird gleich schlecht. Als erstes habe ich heute wieder eine Doppelstunde Sport und danach Mathe. Das heißt, dass ich nach der ersten Pause gleich in den Trainingsraum gehen muss, um meinen Zettel auszubessern, wie es Herr Zimmermann verlangt hat. Wenigstens habe ich heute nur eine Einzelstunde Mathe und danach Reli. Blöderweise muss ich in der zweiten Pause, nach Reli, mit Carina auf dem Schulhof Müll aufsammeln, weil wir ja das Schulgelände verlassen hatten und Morgen noch einmal wegen der Feuertreppe. In der fünften und sechsten Stunde steht dann noch Informatik auf dem Plan, was ganz cool ist, weil wir gerade in Kleingruppen unter Anleitung von Herrn Yilmaz Computer auseinandernehmen und wieder zusammensetzen und Herr Yilmaz sowieso mein Lieblingslehrer ist. Jetzt fällt mir ein, dass ich nach der Schule mit Leonie verabredet bin. Wenn Mum und Dad endlich runterkommen, muss ich ihnen das noch sagen, weil sie ich sonst Sorgen machen und ich wieder Hausarrest riskiere. Ein Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass es zehn nach sechs ist. In fünf Minuten wird gefrühstückt und um viertel vor sieben müssen Svenja und ich aus dem Haus. Da kommt auch schon Mum in die Küche. Sie trägt noch ihr kariertes Nachthemd, hat sich aber schon die Haare gemacht. Sie füllt Kaffee in zwei Becher und geht noch einmal rauf, um Dad zu wecken. Sie bringt ihm morgens immer den ersten Kaffee ans Bett, was ich voll süß finde. Svenja hat mittlerweile den Fernseher ausgeschaltet und setzt sich zu mir an den Küchentisch. „Hast du schon nachgesehen, ob du alle Schulsachen dabeihast, die du heute brauchst?“. Yey! Meine kleine Schwester fängt jetzt auch an, mich zu erziehen. Aber sie hat leider Recht. Ich vergesse ständig irgendwelche Sachen und das führt dazu, dass ich Striche bekomme. In unserem Klassenordner sind nämlich Strichlisten für jede Schülerin und jeden Schüler und jedes Mal, wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht, Schulsachen vergessen hat, oder zu spät gekommen ist, bekommt man einen Strich. Nach sechs Strichen gibt es einen Elternbrief und nach drei Briefen muss man eine Doppelstunde nachsitzen. Es wird wohl niemanden überraschen, dass ich nicht nur regelmäßiger Gast im Trainingsraum, sondern auch beim Nachsitzen bin. Und selbstverständlich bekomme ich auch für die Elternbriefe (jeweils einen Tag) und fürs Nachsitzen (zwei Tage) Hausarrest. Die sechs Striche sammelt man übrigens schneller als man denkt, weil alle Lehrerinnen und Lehrer aus allen Fächern Striche eintragen. Wenn man zum Beispiel montags zur ersten Stunde fünf Minuten zu spät kommt, dienstags das Mathebuch nicht dabeihat, donnerstags nach der Pause eine Minute zu spät in die Klasse kommt und freitags die Englischhausaufgaben nicht hat, ist man schon bei vier Strichen. Svenja ist eine Klasse unter mir. Sie war noch nie im Trainingsraum, musste noch nie nachsitzen, hat noch nie einen Brief wegen vergessener Hausaufgaben bekommen, schreibt fast nur Einsen und Zweien (in Mathe hatte sie einmal eine Vier) und ist die Lieblingsschülerin der meisten Lehrerinnen und Lehrer. Das macht sie bei einigen ihrer Mitschülerinnen und Mitschülern wiederum sehr unbeliebt. Obwohl wir so unterschiedlich sind, habe ich sie sehr lieb. Jetzt kommen Mum und Dad endlich in die Küche. „Ich bin nach der Schule bei Leonie, einem Mädchen von der Realschule. Wir haben uns Gestern verabredet“ platze ich heraus. „Guten Morgen Larissa, guten Morgen Svenja. Danke für das tolle Frühstück, Svenja“ begrüßt uns Dad und sieht mich streng an. Er trägt wie jeden Morgen beim Frühstück einen Bademantel über seiner Boxershorts. „Entschuldigung. Ja, guten Morgen, Dad. Ist das okay, dass ich nach der Schule zu Leonie gehe? Ich bin auch um fünf zuhause“. Jetzt ergreift Mum das Wort „Wann machst du deine Hausaufgaben?“ Ohne zu überlegen antworte ich „Vielleicht mache ich die eh gleich bei Leonie, ansonsten gleich wenn ich zuhause bin. Versprochen“. Mum sieht Dad an und nickt.