Dezember 7, 2024

Larissa Kapitel 4

Also gut, denke ich mir. Am besten bringe ich es gleich hinter mich und hole mir von Mum den Hausarrest ab. Nachdem ich sie weder in der Küche noch im Wohnzimmer finden kann, gehe ich in den Garten. Na toll! Onkel Robert und mein Cousin Merlin sind zu Besuch. Eigentlich ist Robert Mums Cousin und Merlin mein Cousin zweiten Grades, aber das wer sagt schon bitte „Der Cousin meiner Mutter und mein Cousin zweiten Grades sind zu Besuch“? Jedenfalls mag ich die beiden total, genau wie Merlins Mum Josy. So ungefähr alle zwei Monate besuchen sie uns. Dann bestellen wir Pizza und spielen zusammen Gesellschaftsspiele. Wenn wir bei den Baumanns sind (so heißen sie mit Nachnamen), gehen Merlin und ich meistens irgendwann in sein Zimmer und spielen Playstation oder andere Konsolenspiele. Davon hat er richtig viele. Ich freue mich immer, wenn sie uns besuchen, weil das die einzigen Tage sind, an denen ich richtig lange aufbleiben darf. Meistens fahren sie erst nach Mitternacht nach Hause, also zu einer Uhrzeit, zu der ich ansonsten schon seit Stunden im Bett liegen müsste. Wenn wir bei ihnen sind, fahren wir schon viel früher nach Hause.

Also Merlin und ich verstehen uns richtig gut, ziehen uns aber auch gerne genseitig auf (okay, meistens zieht er mich auf) und wenn er jetzt mitbekommt, dass ich Hausarrest kriege, flippt er wahrscheinlich aus vor Schadenfreude. Mir ist das sowieso schon peinlich und Merlin ist auch noch ein totaler Musterschüler, der bestimmt noch nie Ärger bekommen hat. Ich überlege, ob ich den Trainingsraumzettel noch hinter meinem Rücken verstecken und ihn Mum später zeigen kann, aber zu spät. „Na, wieder mal ein Trainingsraumbrief? Was hast du denn heute wieder angestellt?“ Was für eine Begrüßung! Kein Hallo, kein wie geht es dir. Sie wirkt trotzdem gut gelaunt. Onkel Robert sieht mich fragend an und Merlin grinst schadenfroh. Wortlos gebe ich Mum den Zettel, den sie gleich laut vorliest:

Erste Störung: Larissa verbrachte die Stunde mit Schlafen und Kaugummi kauen. Zweite Störung: Larissa zeigte einem Klassenkameraden den Mittelfinger, nachdem sie die Aufgabe an der Tafel mal wieder nicht lösen konnte.

Jetzt klingt sie doch etwas genervt. „Also gut, du hast Hausarrest. Aber du gehst trotzdem noch mit den Hunden. Und frag Merlin, ob er mitgehen möchte“. Wow! Peinlicher geht es kaum. Erst gibt sie mir vor Merlin und Onkel Robert Hausarrest und dann drängt sie mir Merlin als Begleitung beim Gassigehen auf, damit er auch gleich die Gelegenheit bekommt, seine Schadenfreude so richtig auszukosten. Aber was soll’s? Heute ist anscheinend Welt Larissa Demütigungstag. „Äh, ja. Kommst du mit?“ frage ich Merlin, der sofort grinsend aufspringt. „Natürlich, ich nehme Hunter“.

Merlin stürmt ins Haus und kommt zwei Minuten später mit den Hunden zurück und drückt mir Wolfs Leine in die Hand. Da es noch sommerlich warm ist, beschließe ich, die Gelegenheit zu nutzen und noch einmal barfuß zu gehen. Ich liebe das Gefühl, wenn abends die Luft schon kühler wird, aber der Boden noch richtig warm ist. Wie gesagt: Meine Eltern laufen auch gerne barfuß und finden es gut, wenn Svenja und ich das auch machen. Svenja macht das kaum noch, aber ich liebe es. Irgendwie entspannt sich dabei auch mein Kopf viel besser, als wenn ich Schuhe trage. Vor allem wenn der Boden rau und hart ist. Ich weiß, dass das komisch klingt, aber Mum sagt, dass das daran liegt, dass in den Fußsohlen so viele Nervenbahnen enden, die beim Barfußgehen aktiviert werden. Außerdem gibt es an den Füßen irgendwelche Reflexzonen, die den ganzen Körper beeinflussen. Sie ist Masseurin und kennt sich mit solchen Sachen aus. Dad meint aber, dass das mit irgendwelchen elektrischen Ladungen zusammenhängt, die man beim Gehen ohne Schuhe mit der Erde austauscht, aber das verstehe ich nicht so richtig und glaube lieber Mum.

Ich hoffe sehr, dass Merlin keine Sprüche wegen meines Hausarrests loslässt und tatsächlich ist er zunächst nur mit den Hunden beschäftigt. Er stürmt voraus und treibt Hunter an, mit ihm mitzurennen, der natürlich nicht lange überzeugt werden muss. Also mache ich es ihm nach und renne ihm mit Wolf hinterher. Wir verlassen das Dorf und gehen über die Straße, die zum Nachbardorf führt, von der aber auch eine Nebengasse abgeht, über die man auf einen Feldweg kommt, der an einem kleinen Waldstück endet. Schon auf der Nebengasse lassen wir die Hunde von den Leinen, da hier so gut wie nie ein Auto lang fährt und wenn doch, man es schon von weitem sieht. Die Hunde stürmen jetzt mit voller Geschwindigkeit voran und Merlin und ich rennen hinterher, aber die Huskys sind natürlich mindestens doppelt so schnell. Am Ende des Feldwegs gibt es einen kleinen Rastplatz, also eine Wiese am Waldrand, auf der zwei Tische mit jeweils zwei Bänken stehen. Die Hunde wälzen sich auf der Wiese. Ich lasse mich neben ihnen auf den Boden fallen, während Merlin sich auf den Tisch setzt und dem Treiben amüsiert zusieht. „Mach dich nicht dreckig, sonst bekommst du gleich noch einmal Hausarrest“. Okay, es geht los. Natürlich fällt mir keine schlagfertige Antwort ein, also tue ich so, als hätte ich nichts gehört und streichle Hunter. „Und was ist eigentlich dieser Trainingsraum, von dem du den Brief bekommen hast?“ So oft wie ich heute schon rot geworden bin, denke ich mir, lohnt es sich eigentlich gar nicht, dass mein Gesicht zwischendurch immer wieder seine normale Farbe annimmt. „Was ist? Ist dir das etwa peinlich?“ Also gut. Ich erkläre Merlin hastig, was es mit dem Trainingsraum auf sich hat und hoffe, dass wir schnell das Thema wechseln können. Aber Merlin will alles ganz genau wissen: Was man im Trainingsraum machen soll, wie oft ich schon dorthin musste (meine Antwort auf diese Frage ist eine krasse Untertreibung: Ein paar Mal), wie oft es vorkommt, dass ein Schüler oder eine Schülerin dorthin geschickt wird, ob es auch Schülerinnen und Schüler gibt, die noch nie da waren, was passiert, wenn man einfach nicht hingeht, oder den Zettel nicht ausfüllt und so weiter und so weiter. Auch über den Hausarrest fragt er mich gründlich aus, was jetzt auch nicht gerade ein Thema ist, über das ich gerne rede. Merlin hatte noch nie Hausarrest. Robert und Josy bestrafen ihn überhaupt nicht. Auch in der Schule muss er nie nachsitzen oder Strafarbeiten schreiben und einen Trainingsraum gibt es an seiner Schule offenbar gar nicht. Umso gieriger saugt er alles auf, was er mir in Bezug auf Bestrafungen aus der Nase zieht. „Wer hätte gedacht, dass meine kleine Cousine so ein böses Mädchen ist?“, bemerkt Merlin abschließend, als wir uns gerade auf den Heimweg machen. Haha, kleine Cousine. Sehr witzig, denke ich. Merlin ist zwei Monate älter als ich und vielleicht fünf Zentimeter größer. Okay, jetzt gerade vielleicht sechs oder sieben, weil ich ja barfuß bin und er Schuhe anhat, aber trotzdem ist er für einen Jungen eher klein und ich bin für ein Mädchen durchschnittlich groß. Zuhause angekommen, erklärt mir Mum, dass Robert und Merlin zum Abendessen bleiben. Trotzdem soll ich vorher duschen und meinen Schlafanzug anziehen. Hausarrest halt. Auch das ist mir peinlich, weil ich finde, dass mich nur meine Familie im Schlafanzug sehen soll, also meine richtige Familie. Mum, Dad und Svenja eben. Aber beschweren will ich mich nicht, denn ich habe schon Peinlicheres erlebt. Wenn ich zu Mum oder Dad frech bin, muss ich zum Beispiel in der Ecke stehen oder knien (ich kann mir aussuchen, ob ich zwanzig Minuten in der Ecke stehe oder zehn Minuten knie, wenn sie meinen, dass die Strafe nicht reicht, doppelt so lang). Mum hat dafür extra eine „stille Ecke“ mit einer Sanduhr auf einem Beistelltisch eingerichtet. Dort muss ich dann mit dem Gesicht zur Wand stehen oder auf einem Kissen knien bis die Zeit abgelaufen ist.  Auch davon ist Merlin schon einmal Zeuge geworden, aber er hat es mir gegenüber zum Glück nie mehr erwähnt. Für Svenja gelten dieselben Regeln wie für mich, aber sie hört immer auf unsere Eltern und bekommt in der Schule keinen Ärger. Als Kind musste sie ab und zu auch in der Ecke stehen, heute kommt das bei ihr aber höchstens noch zwei- oder dreimal im Jahr vor. Hausarrest hatte sie noch nie.

Nach dem Abendessen setzen sich Mum, Robert, Merlin und Svenja und Dad, der pünktlich zum Essen erschienen ist, noch ins Wohnzimmer, während ich den Tisch abräumen und dann in mein Zimmer gehen soll. Dort fange ich nach kurzer Zeit an, heftig zu weinen, weil mir der ganze Tag so peinlich war und alles so ungerecht gelaufen ist. Erst der Streit mit Herrn Zimmermann und jetzt diese Ungerechtigkeit, dass ich wie ein kleines Kind im Schlafanzug in meinem Zimmer sein muss, während alle anderen gemütlich im Wohnzimmer sitzen und ich sie ab und zu laut lachen höre. Irgendwann schlafe ich erschöpft ein und bekomme nicht mehr mit, wie Robert und Merlin aufbrechen.

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